Anforderungen an die begründete ärztliche Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nach § 31 Abs 6 SGB IV
Die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nach § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b) SGB V muss (auch) den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann.
Die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nach § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b) SGB V muss (auch) den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann. Schließlich muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht im Widerspruch zum Akteninhalt im Übrigen stehen (vgl LSG Nordrhein-Westfalen 25.02.2019, L 11 KR 240/18 B ER, Rn 69 ff, juris; LSG Schleswig-Holstein 26.06. 2019, L 5 KR 71/19 B ER, juris; siehe auch Senatsbeschluss vom 01.10.2018, L 11 KR 3114/18 ER-B, juris).
Streitig ist die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten für die Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten.
Der 1989 geborene und bei der Antragsgegnerin krankenversicherte Antragsteller leidet ua an einem generalisierten tendomyopathischen WS-Syndrom bei -Fehlstatik, multiplen Arthralgien sowie den Folgen eines Fahrradunfalls 09/2003 mit diversen Verletzungen. Am 28.01.2020 stellte er einen Antrag auf Kostenübernahme von Cannabis-Arzneimitteln nach § 31 Abs 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Im beigefügten Arztfragebogen vom 21.01.2020 gab der behandelnde Facharzt für Allgemeinmedizin R. an, wegen des chronischen Schmerzsyndroms bei Zustand nach Fahrradunfall im September 2003 und diverser orthopädischer Probleme solle dem Antragsteller der Wirkstoff Dronabinol mit einer Tagesdosis von zwei Kapseln verordnet werden zur Schmerzlinderung und um die Verordnung von Opioiden zu vermeiden. Gegenwärtig werde er mit Mirtalich und Tilidin behandelt. Die Medikation sei zur Beherrschung der Beschwerden unzureichend. Bei Opioiden bestehe in Anbetracht der psychischen Verfassung eher die Gefahr der Sucht. Der Antragsteller neige zudem zu depressiven Episoden. Auf Nachfrage des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) führte der Allgemeinarzt R. am 31.01.2020 ergänzend aus, dem Antragsteller sollten Medizinal-Cannabisblüten sowie ein Verdampfersystem verordnet werden. Als bisherige Behandlung seien laufend Krankengymnastik und diverse Konzile (ua Neurochirurgie bei Dr. B., der Cannabinoide befürworte) durchgeführt worden. Es gebe keine alternative Behandlungsmöglichkeit, der Antragsteller sei austherapiert.
In seinem MDK-Gutachten vom 18.02.2020 verneinte Dr. H. das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Verordnung der begehrten Cannabinoide. Es könne zum einen nicht eindeutig von einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne von § 31 Abs 6 SGB V ausgegangen werden. Zum anderen stünden zur Behandlung von Schmerzen bei verschiedenen Krankheitsbildern leitliniengerechte Therapieoptionen grundsätzlich zur Verfügung. Falls die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung im vorliegenden Fall gegen die Therapie mit Opioiden spreche, so gelte dies im gleichen Maße für eine Therapie mit einem Cannabispräparat. Allerdings lägen Hinweise dafür vor, dass Cannabinoide bei chronischen Schmerzen den Verlauf und die Ausprägung bei akzeptabler Verträglichkeit spürbar positiv beeinflussen könnten. Der Gesetzgeber habe zwar auf die Nennung von konkreten Kontraindikationen und Warnhinweisen in § 31 Abs 6 SGB V verzichtet, in den Fachinformationen der bisher in Deutschland zugelassenen Cannabinoid-Präparate Sativex und Canemes finde sich jedoch als Kontraindikation ua Anamnese von schwerer Persönlichkeitsstörung oder einer anderen erheblichen psychiatrischen Störung mit Ausnahme einer Depression, die mit ihrem zu Grunde liegenden Zustand in Verbindung stehe.
Im Hinblick auf das Gutachten des MDK lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 18.02.2020 die Genehmigung der Versorgung des Antragstellers mit Cannabisblüten ab.
Mit seinem Widerspruch vom 24.02.2020 machte der Antragsteller geltend, er leide an einer schwerwiegenden Erkrankung. Mittlerweile habe er sich Cannabis auf Privatrezept selbst besorgt. Ihm gehe es danach erheblich besser. Der Gutachter habe auch nicht beachtet, dass er bereits als austherapiert gelte. Die Suchtgefahr bei Cannabis sei wesentlich geringer als bei Opiumderivaten. Die Einschätzung des Gutachters könne die Einschätzung des behandelnden Arztes nicht ersetzen. Daher dürfe die Genehmigung nur in begründeten Ausnahmefällen abgelehnt werden.
Die Antragsgegnerin holte das weitere Gutachten des MDK von Dr. L. vom 27.04.2020 ein, worin dieser ausführte, dass unklar sei, welches Cannabinoid nun gewünscht werde, Blüten oder Dronabinol. Es bestünden Therapiealternativen, die Diagnose eines Schmerzsyndroms sei nicht gesichert. Die Voraussetzungen des § 31 Abs 6 SGB V seien nicht vollständig erfüllt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 03.07.2020 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Antragsteller am 31.07.2020 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben (S 6 KR 1696/20) und am 24.09.2020 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz eingereicht.
Im Rahmen des Hauptsacheverfahrens hat das SG die behandelnden Ärzte R. sowie Dr. B. als sachverständige Zeugen befragt. Dr. B. hat in seinem Bericht vom 15.10.2020 über zwei Konsultationen am 18.09.2019 sowie 09.03.2020 berichtet. Der Antragsteller habe sich zur Besprechung der Möglichkeiten der Schmerztherapie in der Praxis vorgestellt und den Wunsch geäußert, Cannabis rezeptiert zu bekommen. Er sei um Vorlage der psychiatrischen Beurteilung gebeten worden und dann nicht mehr in der Sprechstunde erschienen. Es bestehe eine ausgeprägte diffuse Schmerzsymptomatik, die subjektiv und objektiv schwierig objektivierbar sei. Die Behandlung mit Cannabis sei bei der Vorgeschichte und Symptomatik durchaus einen Therapieversuch wert. Der Facharzt für Allgemeinmedizin R. hat in seinem Bericht vom 18.10.2020 ausgeführt, durch die Beschwerden mit stark psychischen und somatischen Anteilen bei nicht begleitend auszuschließender Suchtproblematik sei die Verordnung von Cannabinoiden als sehr problematisch anzusehen. Bedingt wäre die Verordnung als milde Ausstiegsdroge bei anamnestischer Polytoxikomanie mit erträglicher Entzugssymptomatik zu überdenken. Eine stationäre Rehamaßnahme mit gezielter Schmerzbehandlung und Psychotherapie sollte positiv überdacht werden.
Zur Begründung seines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz hat der Antragsteller dargelegt, es gebe eine begründete und zutreffende Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, der zu Recht eine Verschreibung von THC-haltigen Medikamenten befürworte. Durch § 31 Abs 6 SGB V solle die Therapiehoheit der behandelnden Ärzte gestärkt werden. Nur in begründeten Ausnahmefällen solle die Leistung von der Krankenkasse abgelehnt werden. Soweit der MDK Cannabis auch wegen der Suchtproblematik abgelehnt habe, ignoriere er das mehrfach höhere Suchtpotential von Opium-Präparaten. Letztere seien vom Antragsteller schon getestet, aber nicht vertragen worden. Überdies könne nicht von einem Suchtverhalten gesprochen werden, nur weil der Antragsteller den Versuch einer Selbstmedikation unternommen habe. Soweit die Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie W. einen Cannabismissbrauch erwähne, sei dies nach ihrer zweiten Stellungnahme ausgeräumt worden. Die Eilbedürftigkeit ergebe sich daraus, dass er lediglich 1600 € netto verdiene und sich das benötigte Cannabis nicht leisten könne.
Der Antragsteller hat folgende Unterlagen vorgelegt:
- Arztbrief der Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie W., Praxis D./H. vom 27.02.2020 (rezidivierende depressive Störung, Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung, Cannabismissbrauch ua) - Arztbrief des Neurochirurgen Dr. B. vom 09.03.2020 (Antrag auf Genehmigung von Cannabis nur nach Vorlage der Berichte der Psychotherapeutin) - Arztbrief von Frau W. vom 17.04.2020 (keine Bedenken gegen Cannabistherapie) - Quittungen der R. Apotheke V.-S. vom 03.03.2020 über 960,77 € und vom 21.04.2020 über 480 € (Rückstand 480,77 €) - Privatrezept von Herrn R. vom 10.07.2020 (225,12 €), Rezepte vom 09.10.2020 und 22.10.2020 (jeweils 114,69 €) über Cannabisblüten Bedrodan.
Mit Beschluss vom 09.11.2020 hat das SG den Antrag des Antragstellers abgelehnt mit der Begründung, aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Unterlagen habe die anhängige Klage kaum Erfolgsaussicht, da es an einer begründeten, nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes fehle. Zwar leide der Antragsteller an einer schwerwiegenden Erkrankung und könne die Medikation mit Cannabis-Blüten eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf haben. Bisher liege aber keine ausreichende ärztliche Begründung der begehrten Therapie mit Cannabis vor. Die Ausführungen von Herrn R. in den beiden Arztfragebögen genügten den Anforderungen an eine nachvollziehbare, schlüssige und in sich widerspruchsfreie Begründung nach Überzeugung des Gerichts nicht. Herr R. habe zur Begründung der beabsichtigten Cannabis-Medikation lediglich ausgeführt, Ziel der Behandlung sei das Auslassen der Verordnung von Opioiden. Er habe jedoch keine Angaben zu den Nebenwirkungen des verordneten Tilidin im Fall des Antragstellers gemacht. Eine diagnostische Einordnung der Schmerzkrankheit, eine Schilderung des Verlaufs der Beschwerden und des Erfolgs der bisherigen Behandlung fehle. Eine einzelfallbezogene Abwägung sei nicht erkennbar. Es werde lediglich die Suchtgefahr bei Opioiden genannt. Die Antragsgegnerin weise zu Recht darauf hin, dass die Gefahr von Sucht grundsätzlich auch bei der Medikation mit Cannabis bestehe. Wie bereits Dr. H. zutreffend ausgeführt habe, bestünden bei psychischer Komorbidität Kontraindikationen. Auch aus diesem Grund sei eine besonders sorgfältige Abwägung im Einzelfall nach Überzeugung des Gerichts unabdingbar. Es könne daher dahinstehen, ob die Angabe eines Cannabismissbrauchs durch Frau W. auf einem Missverständnis beruhe. Selbst wenn man davon ausgehe, dass der Antragsteller sich Cannabis immer nur zur Behandlung seiner Schmerzen besorgt habe, genüge dies nicht, um einen Anspruch auf die Genehmigung durch die Antragsgegnerin ohne die Dokumentation der ärztlichen Abwägung im Einzelfall zu begründen. Soweit Herr R. ausführe, bei Cannabis handele es sich mittlerweile um eine anerkannte Schmerztherapieoption, so treffe dies nicht zu. Die inzwischen im Hauptsacheverfahren eingeholten Auskünfte von Dr. B. und Herrn R. bestätigten die Beurteilung des Gerichts. Dr. B. führe aus, der Antragsteller habe sich lediglich zweimal wegen einer diffusen Schmerzsymptomatik vorgestellt, die schwierig zu objektivieren gewesen sei. Er halte zwar die Behandlung mit Cannabis bei der Vorgeschichte durchaus einen Therapieversuch wert, benötige jedoch hierfür die psychiatrischen Befunde, die bisher nicht vorlägen. Herr R. habe ausgeführt, eine stationäre Rehamaßnahme mit gezielter Schmerzbehandlung und Psychotherapie solle positiv überdacht werden. Durch die Beschwerden mit stark psychischen und somatischen Anteilen bei nicht begleitend auszuschließender Suchtproblematik sei die Verordnung von Cannabinoiden als sehr problematisch anzusehen. Gleichzeitig führe er allerdings auch aus, in Zusammenhang mit der chronifizierten Schmerzsymptomatik sei eine gezielte Schmerzlinderung nur durch die Anwendung von Cannabis-Blüten sinnvoll. Die Ausführungen seien damit ebenso wie bereits die vorgelegten Arztfragebögen in sich widersprüchlich und könnten nicht Grundlage einer Genehmigung nach § 31 Abs 6 SGB V sein.
Gegen den seinem Bevollmächtigten am 09.11.2020 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 09.12.2020 Beschwerde beim SG eingereicht mit der Begründung, das SG habe den Amtsermittlungsgrundsatz verletzt und hätte bei den betreffenden Ärzten nachfragen müssen, um eine ausreichende ärztliche Begründung der begehrten Therapie zu erreichen, zumal die Ärzte nicht juristisch geschult seien und nicht wüssten, worauf es ankomme. Entgegen den Ausführungen des SG sei eine einzelfallbezogene Abwägung erfolgt, da der behandelnde Arzt auf die Suchgefahr von Opioiden hingewiesen habe. Bei der Behandlung mit Cannabis handele es sich um eine anerkannte Schmerztherapieoption. Nach Mitteilung des Arztes R. an den Antragsteller sei eine stationäre Rehamaßnahme mit gezielter Schmerzbehandlung und Psychotherapie nicht vorgesehen gewesen.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 09.11.2020 aufzuheben und die Antragsgegnerin vorläufig zu verpflichten, ihm ein verfügbares Cannabis-Präparat als Arzneimittel als Sachleistung zur Verfügung zu stellen sowie ihm bereits entstandene Kosten mit Ausnahme des Zuzahlungsbetrages zu erstatten.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie hat ausgeführt, der Vorwurf der Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes werde nicht geteilt. Die widersprüchlichen Aussagen des Herrn R. bedürften keiner weiteren Abklärung. Die diagnostische Abklärung des vermuteten Schmerzsyndroms sei bis dato nicht abschließend erfolgt, wie Dr. B. dargelegt habe. Herr R. sehe die angedachte Therapie mit Cannabinoiden als problematisch, wie sich aus seinem Bericht vom 18.10.2020 ergebe.
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, der beigezogenen Akte des Hauptsacheverfahrens S 6 KR 1696/20 sowie der Verwaltungsakten der Antragsgegnerin Bezug genommen. II.
Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg.
Der Senat entscheidet durch Beschluss (§ 176 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Eine mündliche Verhandlung wird nicht für erforderlich gehalten (§§ 153 Abs 1, 124 Abs 3 SGG). Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) und auch ansonsten nach § 172 SGG statthafte Beschwerde ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Das SG hat den Antrag zu Recht abgelehnt. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten.
Gemäß § 86 b Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach § 86 b Abs 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden sind (§ 86 b Abs 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 290 Abs 2, 294 Abs 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Die Glaubhaftmachung begnügt sich bei der Ermittlung des Sachverhaltes als Gegensatz zum Vollbeweis mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Dagegen dürfen die Anforderungen an die Erkenntnis der Rechtslage, dh die Intensität der rechtlichen Prüfung, grundsätzlich nicht herabgestuft werden. Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist grundsätzlich das materielle Recht, das vollumfänglich zu prüfen ist. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, und ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so verlangt der Anspruch des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz eine Eilentscheidung anhand einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung (BVerfG 12.05.2005, 1 BvR 569/05, Breith 2005, 803-808).
Zutreffend hat das SG vor diesem Hintergrund den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, da ein Anordnungsanspruch nicht vorliegt. Gemäß § 142 Abs 2 S. 3 SGG weist der Senat die Beschwerde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück.
Lediglich ergänzend ist noch auf Folgendes hinzuweisen: Gemäß § 31 Abs 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung ua mit Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Dronabinol, wenn (1.) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung (a) nicht zu Verfügung steht oder (b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und (2.) eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Nach § 31 Abs 6 Satz 2 SGB V bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
Der Senat kann offenlassen, ob der Antragsteller an einer schwerwiegenden Erkrankung leidet. Jedenfalls hat der Senat nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen Zweifel daran, dass keine andere Therapie zur Verfügung steht bzw nicht zur Anwendung kommen kann.
Wie der MDK im Gutachten vom 18.02.2020 nachvollziehbar ausgeführt hat, kommt zusätzlich zur Verabreichung von Tilidin die Kombination mit einem NSAR (nichtsteroidales Antirheumatikum) und die Verordnung von Physiotherapie in Betracht. Auch eine Vorstellung beim Schmerztherapeuten oder eine neuropsychiatrische Abklärung sind eine vertragliche Option. Der behandelnde Arzt R. erwähnt in seinem Bericht vom 18.10.2020 gegenüber dem SG überdies eine stationäre Rehamaßnahme mit gezielter Schmerzbehandlung und Psychotherapie als sinnvoll. Dass diese Alternativen ausgeschöpft seien, wie der behandelnde Allgemeinarzt R. an anderer Stelle (vgl Stellungnahme vom 29.01.2020, Bl 33 SG-Akte S 6 KR 1696/20) pauschal behauptet, ergibt sich aus dem vorliegenden Akteninhalt gerade nicht. Der behandelnde Facharzt für Neurochirurgie Dr. B. hat im Rahmen seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 15.10.2020 gegenüber dem SG dargelegt, der Antragsteller habe ihn lediglich 2x konsultiert und habe bereits bei der Erstkonsultation speziell den Wunsch geäußert, Cannabis rezeptiert zu bekommen. Der Anregung des Dr. B., eine psychiatrische Beurteilung vorzulegen, damit die Notwendigkeit von Cannabis geprüft werden könne, kam der Antragsteller nicht nach. Insofern spricht Dr. B. auch nur von einer „diffusen Schmerzsymptomatik“, die subjektiv und schwierig objektivierbar sei. Dementsprechend kann von einer schmerztherapeutischen Abklärung des Krankheitsbildes nach dem derzeitigen Akteninhalt keine Rede sein und ist der Hinweis des Herrn R. in seiner Stellungnahme vom 19.02.2020, es seien „diverse Konzile, ua Neurochirurgie Dr. B.“ durchgeführt worden, nicht nachvollziehbar. Anhaltspunkte für eine neuropsychiatrische Abklärung ergeben sich aus den Akten ebenso wenig, und dass eine Medikation mit einem NSAR in der Vergangenheit erfolglos geblieben sei, wird zwar vom Antragsteller behauptet, nicht jedoch von den behandelnden Ärzten. Insofern geht der Senat nach den bisherigen Erkenntnissen davon aus, dass es noch Behandlungsalternativen gibt.
Auch § 31 Abs 6 Satz 1 Ziff 1b) SGB V, wonach Behandlungsalternativen nicht zur Anwendung kommen können, ist nicht erfüllt, da es an einer begründeten Einschätzung eines Vertragsarztes fehlt, die geeignet wäre, die gesetzlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Unabhängig von einer gewissen Einschätzungsprärogative/Therapiehoheit des behandelnden Vertragsarztes (vgl LSG Baden-Württemberg 19.09.2017, L 11 KR 3414/17 ER-B, Rn 26, juris; LSG Hamburg 02.04.2019, L 1 KR 16/19 B ER, Rn 14, juris; LSG Berlin-Brandenburg 27.05.2019, L 9 KR 72/19 B ER, Rn 7, juris; s auch BT-Drucks 18/10902 S 20) muss die ärztliche Einschätzung nach dem Gesetzeswortlaut die zu erwartenden Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen darstellen. Ferner muss die Einschätzung den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann. Schließlich muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht im Widerspruch zum Akteninhalt im Übrigen stehen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen 25.02.2019, L 11 KR 240/18 B ER, Rn 69 ff, juris; LSG Schleswig-Holsteinisch 26.06. 2019, L 5 KR 71/19 B ER, Rn. 17, juris). Wie das SG bereits überzeugend ausgeführt hat, ist die Aussage des behandelnden Arztes R. widersprüchlich und wenig überzeugend. Einerseits hält er die Verabreichung von Cannabinoiden für eine sinnvolle Therapie, andererseits sei sie bei nicht auszuschließender Suchtproblematik als sehr problematisch anzusehen (Schreiben vom 18.10.2020) und sollte eine stationäre Rehamaßnahme mit gezielter Schmerzbehandlung und Psychotherapie positiv überdacht werden. Eine Begründung, warum keine anderen Schmerzmittel verabreicht werden und eine schmerztherapeutische Behandlung bei einem entsprechend ausgebildeten Arzt (und nicht nur zweimalige Konsultation des Dr. B. mit dem Wunsch einer Cannabis-Verordnung) ebenso wenig erfolgt wie eine neuropsychiatrische Abklärung, gibt Herr R. nicht. Auch teilt Herr R. nicht mit, welchen Erfolg die bisherigen Therapien hatten, obwohl er im Arztfragebogen ausdrücklich danach befragt wurde (vgl Bl 33 ff SG-Akte S 6 KR 1696/20). Das bloße Argument, alternativ zu verordnende Opioide trügen die Gefahr der Sucht, reicht dem Senat nicht aus.
Die Einholung weiterer Gutachten bzw Arztbefragungen neben den bereits im Verwaltungs- und erstinstanzlichen Hauptsacheverfahren erfolgten würde die Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erheblich verzögern und wäre mit dem Zweck des Verfahrens, eine zeitnahe, vorläufige Regelung herbeizuführen, nicht vereinbar. Im Übrigen ist bereits fraglich, ob eine fehlende begründete Einschätzung iSd § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 überhaupt nachgeholt werden kann (verneinend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht 26.06.2019, L 5 KR 71/19 B ER, Rn 17, juris unter Verweis auf LSG Nordrhein-Westfalen 30.01.2019, L 11 KR 442/18 B ER, Rn 74, juris; LSG Hamburg 02.04.2019, L 1 KR 16/19 B ER, Rn 19, juris).
Insofern wurden die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 31 Abs 6 Satz 1 SGB V nicht glaubhaft gemacht.
Im Übrigen ist auch die Eilbedürftigkeit und damit der Anordnungsgrund zweifelhaft. Wie sich der Gehaltsabrechnung vom 01.10.2020 entnehmen lässt, verfügt der Antragsteller über ein Nettoeinkommen von immerhin 1.612,67 €, so dass ihm bei Zugrundelegung monatlicher Kosten in Höhe von etwa 950 € (vgl Rezept vom 22.10.2020, Bl 61 SG-Akte S 6 KR 2105/20 ER) noch 662,67 € zum Leben verblieben. Die Höhe etwaiger Mietkosten (der Antragsteller wohnt wohl in der Wohnung seiner Großmutter, vgl Schreiben der behandelnden Fachärztin für Psychiatrie W. vom 27.02.2020, Bl. 72 SG-Akte S 6 KR 2105/20 ER) ist dem Senat nicht mitgeteilt worden und daher nicht in Abzug zu bringen. Insofern ist nicht glaubhaft gemacht worden, dass der Antragsteller finanziell nicht in der Lage wäre, die Kosten des Cannabiskonsums bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache selbst zu tragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG). .